Yoga und Märchen

Der tausendblättrige Lotos in 1001 Nacht

Mutabor Märchenstiftung, Jaenike Djamila

„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen leise
und unmerklich in eines über,
als wäre es erst heute geschehen …
... als Mantao, der Königsgaukler in einer Lotosblume
geboren wurde und durch sein Wirken alle ‚Fäden’
seiner Lotosblume löste, die ihn mit dieser
Welt verbanden ...“

Kyber Manfred: der Königsgaukler. 2007.
© Jaenike Djamila. Mutabor Märchenstiftung.

Das Wort, das Staunen und die Stille

Das geschriebene Wort ist uns selbstverständlich geworden. „Es steht geschrieben ...“ - mit dieser Sentenz geben wir Worten ein absolutes Gewicht, eine Verbindlichkeit für alle. Dabei geht vergessen, dass die mündliche Überlieferung von Geschichten, Märchen oder Weisheiten lange Zeit die wichtigste Form der Tradierung gewesen ist – und teilweise noch heute ist. So lange keine Schriften existierten oder diese nur Eliten vorbehalten waren, wurden sowohl Volksmärchen als auch hinduistische Texte von Generation zu Generation mündlich weitergegeben. Das Wort entstand durch göttliche Offenbarung, es entstand in uns, wir sind das Wort. Wenn auch die Märchen nicht den gehörten Offenbarungen, sondern dem Erinnerten zugewiesen werden, so haben sie dennoch einen sehr hohen Stellenwert, den z. B. auch die Bhagavad Gītā geniesst, welche ebenfalls zu den erinnerten Texten zählt.

„... die Leute behaupten, oh, König ...“ so fängt Scheherezade jede Nacht aufs Neue an, dem König eine weitere Geschichte zu erzählen. Die Erzählungen aus 1001 Nacht enthalten Liebesnovellen, Zaubergeschichten, Heldensagen, Abenteuerfahrten, Legenden, Gleichnisse und humorvolle Anekdoten und ganz am Ende schliesslich rettet Scheherezade nicht nur sich vor dem Tod, sondern erlöst auch den König von seinem Tötungswahn, einzig durch die Faszination des Wortes.

Das Wort ist die Quelle, die Essenz aber liegt zwischen den Worten, in der Stille. So wie der Brunnen ein Gefäss für Wasser darstellt, das Wasser aber aus der Tiefe des Brunnens geschöpft werden muss, so ist das Wort das Gefäss für die Quelle in uns und bildet den Ursprung, der zwischen den Worten liegt. Diese Stille gilt es zu ergründen und auszukosten.

Im Yoga ist es die Pause zwischen Einatmen und Ausatmen, Anspannung und Entspannung - im Märchen ist es die Atempause, der Raum zwischen den Zeilen, das fehlende Wort, das Ende der Geschichte, das Staunen und Nachdenken nach einem Märchen, das uns diese Stille bringt, die uns schliesslich hilft, die Quelle in uns zu erkennen.

Immer wieder ist es der Moment des Innehaltens, in dem Erkenntnis geschieht. Wir erhalten mit der „Moral der Geschichte" einen Impuls von aussen. Jetzt fängt das eigene Denken an. Vertrauensvoll lassen wir diese Stille von aussen sich in unserem Inneren ausbreiten, bis sie uns ganz ausfüllt und erfüllt. Im Yoga kommt der Impuls aus dem Inneren und führt von Anfang an über die eigene Arbeit hin zur Erkenntnis, in die Stille. Diese Stille führt uns zum Wesenskern: der märchenhafte, zeitlose und göttliche Ursprung in allem offenbart sich uns.

Die Geschichtenerzähler Indien

Indien hat eine sehr lange Tradition der Geschichtenerzähler, die bis heute lebendig geblieben ist. Schon in der Frühzeit werden lehrreiche Geschichten über das Leben der Götter erzählt. Sie erhalten menschliche Eigenschaften als Charakterzüge und leben ihre Emotionen in allen Facetten. Vor allem aber sind die Götter damit beschäftigt, die Weltordnung im Gleichgewicht zu halten. Viele dieser Mythen und Weisheiten sind in den Yoga eingeflossen. Dies können wir auch daran erkennen, dass viele Haltungen des Haṭha-Yoga Namen von mythischen Tieren und Aspekten des Göttlichen tragen. Um sich mit dem archetypischen Urgrund zu verbinden, hilft einem das Wissen um diese Yogageschichten enorm. Das Märchen und seine Erzähler sowie der Yogalehrer bilden somit eine Brücke zwischen der alten Weisheit und dem Menschen der heutigen Zeit. Denn nur so können wir uns der zeitlosen Wahrheit, welche die Symbolik der Übung transportiert, öffnen und sie in uns wirken lassen. Bilder oder Symbole sind auch Ausdrucksmittel unseres Unbewussten und bilden die Brücke zwischen Innen und Aussen. Die Verbindung einer Körperhaltung mit einer Geschichte lässt im Kopf der Teilnehmer Bilder entstehen, diese wiederum bilden den Faden für eine eigene Geschichte, den eigenen Weg. Eine neue Erkenntnis und auch tiefe Einsicht sind möglich.

Die Brücke des Lebens, Schley Josiane © Schley Josiane. Die Brücke des Lebens. 2013.

Spiritualität im Alltag

Das Mahābhārata, das grosse indische Krieger-Epos, wird auch heute noch von den Barden in der Öffentlichkeit vorgetragen. Die Geschichtenerzähler helfen so rund um die Welt mit Ihren Weisheiten und Märchen, die sie an verschiedensten Anlässen unter die Menschen bringen, die Denkhaltungen des Einzelnen zu hinterfragen. Es ist eine grosse Chance, mit Hilfe erzählter Märchen und Weisheiten in die Stille zu gelangen, nach innen zu lauschen und das eigene Glück zu erfahren. Wie wir die Spiritualität im Alltag leben können, lässt sich z. B. anhand der Geschichte „Hans im Glück“ sehr gut aufzeigen. Der Hans des Märchens hat alles, verliert alles und ist der glücklichste Mensch auf der Welt. Er hat alles losgelassen und in seinem Herzen das Glück und die vollkommene Zufriedenheit gefunden.

Im Yoga lernen wir uns von unseren Begierden und Anhaftungen zu lösen. Wenn wir auch im Alltag erkennen, dass der wirkliche Reichtum in uns ist, fällt es uns leichter, äußere Werte zu relativieren.

Von der Unwissenheit zur Erkenntnis

Sowohl im Yoga als auch im Märchen werden uns unsere Schattenseiten aufgezeigt, die uns helfen sollen, uns zu ändern und unser wahres Wesen zu erkennen. Diesen Weg zu gehen braucht Mut und Vertrauen. Schon im Tantrismus wird genau dieser Mut sehr schön beschrieben. Im Tantra geht der Schüler, „Sadhaka“ genannt, den wahren Heldenweg. Auf diesem Weg der vollständigen Hingabe und Selbstaufgabe muss sich der Schüler erst vielen Prüfungen unterziehen, bevor er zum eigentlichen „Sadhaka“ wird. Durch die Meditation begegnet er als erstes seinen Schattenseiten. Erneut warten Prüfungen auf ihn, die er nur als Held bestehen kann. Ängste, Triebe und Begierden müssen erkannt und vom Helden „besiegt“ werden. Die Meditation hilft ihm auch hier, diese zu bestehen, denn in der Stille geschieht Erkenntnis. Mit dieser wächst der Mut, auch Dinge zu tun, die in der Gesellschaft tabuisiert werden.

„Das, was erkannt wird, kann dem Menschen, der es erkennt, niemals neu sein, denn sonst würde es für sein Gehirn bedeutungslos sein und könnte somit nicht in sein Bewusstsein treten [...] die Antworten auf unsere existenziellsten Fragen waren schon immer in uns, jedoch in einem ruhenden und inaktiven Zustand.“
Trökes Anna: Die kleine Yoga Philosophie. 2013.

Der grundlegende Unterschied der beiden Wege ist, dass der Ansporn zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst im Yoga aus dem Inneren kommt, während er bei den Märchen von aussen herangetragen wird. Erkenntnis aber ist auf beiden Wegen möglich.

Bedeutung von Yoga für mich als Märchenerzählerin

Der Yoga bietet mir als Märchenerzählerin eine grosse Chance, über alte Legenden und Geschichten, die Verbindung zum spirituellen Hintergrund wiederherzustellen. Denn Yoga bedeutet Vereinigung mit dem eigenen göttlichen Ursprung, das „Einswerden“ mit sich selber.

„Die Mythen weisen auf eine höhere Bewusstseinsebene, sie beschreiben die Reise der Seele von der Unwissenheit zur Erleuchtung. Ihr Ziel ist es, uns von den Illusionen unserer ich-orientierten Existenz (Samsara) zur Realität der befreiten Existenz zu führen, die aus drei Hauptkomponenten besteht: „Sat – Cit – Ānanda“ = Wahrheit, klares Bewusstsein und grenzenlose Freude“.
Kaivalya Alanna/van der Kooij Arjuna: Als Visnu eine Lotosblüte gebahr. 2001.

Yoga ist mystisch und spiegelt sich in den Āsana - die ruhenden Körperstellungen im Yoga - und Mudrās - symbolische Handstellungen - wieder. Die Geschichten, die hinter einem Āsana stehen, geben uns neue Perspektiven, und vielleicht gelingt es uns dadurch unseren Alltag mit dem Yoga zu verbinden und uns mit unserem Wesenskern wieder zu vereinen. Auch lassen uns diese Geschichten in einen Raum eintreten, der in unserem Inneren liegt.

Diese Mythen und Legenden sind so zahlreich, wie die Blätter des tausendblättrigen Lotos. Über unsere Vorstellungskraft können wir anhand dieser Bilder bestimmte Geisteszustände hervorrufen. Diese haben Einfluss auf unsere psychische und physische Verfassung. Indem wir die Bilder oder Symbole zulassen, kann sich unser Atem beruhigen, der Rhythmus unserer Gehirnwellen verändern und sich unser Nervensystem entspannen. Die Geschichten geben uns neue Perspektiven und vielleicht gelingt es uns dadurch auch unseren Alltag mit dem Yoga zu verknüpfen, unsere inneren Werte wiederzufinden und uns mit unserem göttlichen Ursprung zu verbinden.

Märchen im Yogaunterricht

Geschichten können helfen, uns die Symbolik und Bedeutung der Āsana zugänglich zu machen: die Stabilität des Berges, die Verwurzelung des Baumes oder die unendliche Kraft des Kriegers - das Empfinden und Erleben dieser Yoga-Stellungen wird durch die entsprechende Geschichte um ein Vielfaches intensiviert.

Eine Entspannungsreise in Form einer Geschichte zum Schluss der Lektion kann allerdings nie die gleiche Wirkung haben wie eine Tiefenentspannung. Eine dreissigminütige „Yoga nidrā“, welche aus einer alten tantrischen Wissenschaft entstanden ist, wäre die anspruchvolle Alternative. Doch auch durch ein aufmerksames und hingebungsvolles Hören von Geschichten kann der Yogaschüler lernen, sich zu entspannen und im Āsana als Medium den inneren Wandel zu erkennen.

Das Zuhören einer Geschichte schult unsere Konzentrationsfähigkeit und die Phantasiegebiete in unserem Inneren dehnen sich aus. Der Zuhörer wird ermuntert, eine Fortsetzung des Geschehens zu spinnen. Dies regt dazu an, auch im Leben mutig zu sein, eine ungewöhnliche Alternative zu wählen und auch komplizierte Wege zu gehen - immer mit der Stabilität und inneren Ruhe des Berges, der Verwurzelung des Baumes und der Heldenhaftigkeit des Kriegers.

Yoga mit Pascale
„Märchen entspannen von Hetze und Stress, sie geben innere Ruhe.
Zersplitterung, das Übel unserer Zeit, macht krank,
lässt den Lebensmut sinken.
Weil Märchen die Tiefenschichten ansprechen,
schaffen sie Harmonie in uns und halten uns gesund.“
Ramm-Bonwitt Ingrid: Zauberkraft der Märchen. 2011.

Wie du die Welt siehst
Krishna wollte die Weisheit seiner Könige testen. Er ließ eines Tages den für seine Grausamkeit und seinen Geiz bekannten König Duryodhana zu sich rufen und gab ihm die Aufgabe, durch die ganze Welt zu reisen und einen wahrhaft guten Menschen zu finden und zu ihm zu bringen. Gehorsam machte sich Duryodhana auf die Suche. Er begegnete vielen Leuten und sprach mit ihnen, und nach langer Zeit kehrte er zu Krishna zurück und sagte: „Ich habe auf der ganzen Welt gesucht, wie du mir aufgetragen hast, aber ich habe keinen wahrhaft guten Menschen finden können. Alle sind selbstsüchtig und böse!“ Dann ließ Krishna einen weiteren König namens Dhammaraja zu sich holen. Dhammaraja war bekannt und beliebt für seine Freigiebigkeit und Güte. Krishna gab ihm den Auftrag, die ganze Welt zu bereisen und ihm einen wahrhaft bösen Menschen zu bringen. So machte sich der König auf den Weg und sprach auf der ganzen Welt mit vielen Menschen und kehrte nach einigen Jahren wieder zurück und berichtete Krishna: „Oh Krishna, ich habe versagt. Es gibt Leute, die irregeleitet sind, Menschen, die aus Blindheit handeln, aber nirgends konnte ich einen wahrhaft bösen Menschen finden. Trotz aller ihrer großen oder kleinen Fehler sind sie alle im Herzen gut.“
Yogaakademie Austria: Weisheitsgeschichten. 2014.

Yoga und Märchen bringen das Denken vom Kopf ins Herz, sodass Schritt für Schritt Ruhe einkehren und der Weg zum Glück, zur inneren Wandlung gelingen kann.

Yoga und Märchen, zwei Wege ein Ziel: zurück zum eigenen Wesenskern.

„... Mantao kannte den mühsamen Gang der pilgernden Käfer,
deren schwachen Beinen ein Sandkorn gross und erhaben schien,
und er kannte den Flug der Adler,
die im gleitenden Schlag ihrer Schwingen die Berge umkreisten,
so hoch, dass ihre Gipfel ihnen klein und gering vorkamen.
Brahman ist in beiden, beider Wege musst du kennen und lieben
und beider Wege wirst du wandern auf dem Pfad deines Lebens:
den Weg der Mühsamen
und den Weg der Grossen, die über den Berggipfeln kreisen ...
Aus Schnee und Eis blühte eine grosse Lotosblume auf
und umfängt mit ihren weichen Blütenblättern Mantao, den Königsgaukler.
Schmerzlos und lautlos sinkt sein irdischer Körper in den Kelch der Blume
und wandelt sich in ihre Wesenheit.
Das war vor vielen tausend Jahren oder war es gestern oder heute erst?“

Kyber Manfred: der Königsgaukler. 2007.

Yoga und Märchen






© Schley Josiane. Yoga und Märchen. 2013.

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